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Argumente für eine Benennung der Sedanstraße nach Ludwig Baumann

Prof. Dr. Detlef Garbe                                                              Hamburg/Bremen, 12.02.2023
Wiss. Beirat der Bundesvereinigung
Opfer der NS-Militärjustiz

Argumente für eine Benennung der Sedanstraße nach Ludwig Baumann

Seit 2020 setzt sich die Initiative Sedanstraße umbenennen! dafür ein, dass die zwischen Bundesstraße und Grindelallee verlaufende Straße, deren Name mehrere Institute der Ham­burger Universität, das Polizeikommissariat 17 und das Franziskus-Kolleg in ihrer Adresse füh­ren, einen neuen Namen erhält. Die im Jahr 1900 benannte Straße erinnert an die Schlacht von Sedan, in der am 1./2.9.1870 ein von Preußen angeführtes deutsches Invasionsheer den französischen Verteidigern eine kriegsentscheidende Niederlage zufügte. Der im Kaiserreich am 2. September an Schulen und Universitäten gefeierte Sedantag wurde zu einem Symbol des deutschen Machtanspruchs und nationalistischer Gesinnung.

Die Initiative hat mich gebeten, zu dem Vorschlag einer Umbenennung der Sedanstaße nach Ludwig Baumann, dem vielfach ausgezeichneten langjährigen Vorsitzenden der Bundesver­einigung Opfer der NS-Militärjustiz Stellung zu nehmen.

Für diesen Umbenennungsvorschlag sprechen folgende Punkte:

1.) Ludwig Baumann ist gebürtiger Hamburger: Er wurde am 13. Dezember 1921 in unmit­telbarer Nähe der Sedanstraße im Wöchnerinnenheim Bundestraße 12 geboren. Die im da­mals preußischen Altona wohnhaften Eltern hatten bewusst diesen Ort zur Entbindung gewählt, denn ihr erster und auch einziger Sohn sollte ein echter „Hamburger Jung“ werden. Später wohnte die Familie in der Henriettenstraße 44, so dass Ludwig Baumann in Eimsbüttel aufwuchs.

2.) Desertion aus der Wehrmacht und Kontakte zum französischen Widerstand: Ludwig Baumann, der nicht der Hitlerjugend beigetreten war, begann nach einer Maurerlehre 1939 ein Tiefbaustudium, aus dem er zunächst zum Reichsarbeitsdienst nach Ostpreußen und dann im Februar 1941 zur Kriegsmarine einberufen wurde. Zur Hafenkompanie nach Bordeaux ab­kommandiert, fasste er gemeinsam mit seinem ebenfalls aus Hamburg stammenden Kamera­den Kurt Oldenburg den Entschluss zur Desertion. Die beiden 20-jährigen Soldaten waren des Kriegsdienstes überdrüssig, zweifelten am Sinn des von der Wehrmacht geführten Krieges, sehnten sich nach Freiheit und einem Leben in Amerika. Anfang Juni 1942 flohen sie mit Unterstützung französischer Kontaktpersonen, die ihnen Zivilkleidung gaben und sie in die Nähe der Grenze fuhren. Dort wurden sie von einer Zollstreife aufgegriffen. Obwohl sie be­waffnet waren, schossen sie nicht. Vier Wochen später, am 30. Juni 1942, verurteilte sie das Feldkriegsgericht beim Marinebefehlshaber Westfrankreich zum Tode. Weil sie ihre französi­schen Freunde nicht verrieten, wurden sie bei den Verhören gefoltert. Mehr als ein halbes Jahr saßen die beiden Zelle an Zelle im Todestrakt des Wehrmachtgefängnisses in Bordeaux, ehe ihnen die Gnadenentscheidung des Oberkommandos der Kriegsmarine mitgeteilt wurde. Nach Überstellungen in ein Militärstrafgefangenenlager im Emsland und ins Wehrmacht­gefängnis Fort Zinna in Torgau kamen sie in das berüchtigte Bewährungsbataillon 500, wo sie an der Ostfront in besonders gefährdeten Abschnitten eingesetzt wurden. Kurt Oldenburg starb Anfang 1945, Ludwig Baumann wurde schwer verwundet.

3.) Engagement in der Friedensbewegung: Ludwig Baumann kam noch 1945 aus sowjetischer Gefangenschaft schwer traumatisiert zurück nach Hamburg. Hier hatte er es schwer in einer Gesellschaft, in der Deserteure als „Feiglinge“ und „Verräter“ geächtet wurden. Als reisender Handelsvertreter lernte er in Bremen seine Frau kennen. Als sie bei der Geburt des sechsten Kindes starb, musste er die Verantwortung für die Kinder übernehmen. Erst jetzt gelang es ihm, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Baumann, der seit 1979 beim Bremer Ju­gendamt arbeitete, begann sich in der Friedens- und Dritte Welt-Bewegung zu engagieren.

4.) Kampf um die Rehabilitation der Wehrmachtsdeserteure: Ludwig Baumann gründete im Oktober 1990 gemeinsam mit 37 Leidensgefährten die „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“. Als ihr Vorsitzender führte Ludwig Baumann mit den Bundesregierungen verschiedener politischer Couleur einen zähen und schließlich erfolgreichen Kampf um Aner­kennung. Er gewann schließlich die Unterstützung der Kirchen, der Bundesminister Hans-Jochen Vogel und Herta Däubler-Gmelin und vieler anderer. 1997 erkannte der Bundestag die Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“ als Opfer der nationalsoziali­stischen Gewaltherrschaft an, 1998 wurde durch das „Gesetz zur Aufhebung nationalsoziali­stischer Unrechtsurteile“ zuerkannt, dass die Urteile nach Einzelfallprüfung aufgehoben wer­den können. 2002 wurden die wegen „Fahnenflucht“ und „Wehrkraftzersetzung“ verhängten kriegsgerichtlichen Urteile pauschal aufgehoben, bei Verurteilungen wegen „Kriegsverrat“ erfolgte die Rehabilitierung erst im September 2009. Ludwig Baumann hat dabei nicht nur für die Interessen der Hinterbliebenen und der wenigen Überlebenden gestritten, sondern sich um die politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland sehr verdient gemacht. Seinem unermüdlichen Einsatz ist wesentlich der historische Beschluss vom 14.05.1997 zu verdanken, als der Deutsche Bundestag bekundete: „Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernich­tungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.“

5.) Einsatz für die Erinnerungskultur in Hamburg: In besonderer Weise engagierte sich Ludwig Baumann auch für die Erinnerungskultur in seiner Geburtsstadt, so bei dem 2009 von der Justizbehörde organisierten Begleitprogramm zur Ausstellung „Was damals Recht war … Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht« und bei der Verlegung eines „Stolper­steins“ vor dem früheren Wohnhaus von Kurt Oldenburg in der Walddörferstraße 357. Im Januar 2013 sprach er im Hamburger Rathaus zur Eröffnung der Ausstellung „Deserteure und andere Verfolgte der NS-Militärjustiz“. Gemeinsam mit dem damaligen Ersten Bürgermeister Olaf Scholz weihte er im November 2015 den „Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz“ in Nachbarschaft des 76er Kriegerdenkmals am Stephansplatz ein.

6.) Straßenbenennung am zentralen Ort der Heeresjustiz in Hamburg: Hamburg war während des Zweiten Weltkriegs ein bedeutender Wehrmachtstandort: Elf Kriegsgerichte sowie weite­re Dienststellen der Wehrmachtjustiz führten Zehntausende von Verfahren durch und zeich­neten für Hunderte Todesurteile verantwortlich. In dem östlich und südlich der Sedanstraße gelegenen Arealen, die heute durch Gebäude der Universität Hamburg überbaut sind, befan­den sich die 1869 und 1897 an der Bundesstraße errichteten Kasernen. In der alten Kaserne (Hausnummer 54) residierte das Gericht der Wehrmachtkommandantur Hamburg sowie zeit­weilig sechs weitere Divisionsgerichte. Diese Gerichte fällten, soweit bislang bekannt, am Standort der alten Kaserne rund 90 Todesurteile. Außerdem befand sich hier die Standort­arrestanstalt. Vor dem ehemaligen Bekleidungsamt in der Sedanstraße 19 A, dem einzigen bis heute noch erhaltenen Gebäude des Kasernenstandortes aus der Kaiserzeit, befindet sich seit 2016 eine Tafel aus dem Kennzeichnungsprogramm der Kulturbehörde zu Stätten der Wehrmachtjustiz.

Die oben genannten sechs Punkte zeigen die enge Verknüpfung der Biografie von Ludwig Baumann mit der Sedanstraße und ihrem unmittelbaren Nahbereich. Kaum ein anderer Ort dürfte eine ebenso große Fülle von Argumenten für eine Würdigung Baumanns genau an diesem Ort bieten. Nachdem der Bezirk Wandsbek bereits vor einigen Jahren auf dem ehe­maligen Gelände der Lettow-Vorbeck-Kaserne im Wohngebiet Jenfelder Au mehrere Straßen nach ehemalige Wehrmachtsdeserteuren, unter ihnen auch Kurt Oldenburg, benannte, stünde dem Bezirk Eimsbüttel die Benennung einer Straße nach Ludwig Baumann gut an.

Ein Straßenname, der bis heute an den deutschen Nationalismus und der von diesem jahr­zehntelang kultivierten „Erbfeindschaft“ zu Frankreich erinnert, passt nicht mehr in die heutige Zeit. Wenn er ersetzt wird durch einen Namen, der darauf verweist, dass es auch in der Zeit des Nationalsozialismus Menschen gab, die sich einem solchen Denken widersetzten, dann würde dies ein Symbol für einen Wandel dokumentieren, der dem heutigen engen und freundschaftlichen Miteinander von Menschen aus Frankreich und Deutschland entspricht. Und den Anliegern, insbesondere der Universität Hamburg, bliebe ein Name erspart, der alten Ungeist in sich trägt.